Der SIBYLLE-RIED-PREIS 2003 wurde verliehen an
Zeitschrift "einfälle"
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, Ihnen im Namen des Preisrichterkollegiums, also auch im Namen von Frau Gisela Schüler und Herrn Rupprecht Thorbecke, und der Stiftung Michael, an die der Sibylle-Ried-Preis inzwischen angebunden werden konnte, den Träger des zum zweiten Mal vergebenen Preises nennen zu dürfen: die Selbsthilfezeitschrift einfälle. Wie die meisten von Ihnen wissen, stand Sibylle Ried der Arbeit der Selbsthilfe und den einfällen sehr nahe. Ihr viel zu früher Tod führte dort zu großer Betroffenheit und ihr wurde in Heft 74 der einfälle eindrucksvoll gedacht.
Die einfälle gehören in Deutschland inzwischen zum Epilepsie-Alltag. Sie liegen in den Wartezonen von Ambulanzen aus und werden auf Tagungen verteilt, man trifft kaum einen Erwachsenen oder Eltern mit einem epilepsiekranken Kind, die nicht irgendwann einmal zumindest ein Heft in der Hand gehabt hätten. Einfälle sind fast eine Selbstverständlichkeit geworden, die übrigens auch von vielen Fachleuten zur Kenntnis genommen und gelesen wird. Weshalb soll diese offenbar gut etablierte Zeitung mit einem Preis ausgezeichnet werden?Deshalb, weil einfälle in den über 20 Jahren ihres Bestehens immer etwas Wegweisendes hatten. Dies gilt nicht nur für den deutschsprachigen Bereich, sondern auch im internationalen Vergleich mit Zeitschriften aus der Laienbewegung. Die einfälle zeichneten sich von Anfang an durch eine geglückte Verbindung von der Vermittlung medizinischer Fachinformationen mit der Auseinandersetzung mit der Situation epilepsiekranker Menschen aus der Perspektive der Betroffenen aus. Die Idee zu dieser Zeitschrift entstand auf dem ersten Treffen der deutschen Epilepsie-Selbsthilfegruppen im November 1981 in Berlin. Damals beschlossen 17 Gruppen, eine gemeinsame eigene Zeitung zu machen, wobei die Berliner Gruppe zunächst für ein Jahr die Redaktion bilden sollte. Als erstes musste ein Titel gesucht werden. In der ersten Ausgabe vom März 1982 bot die Redaktion verschiedene Möglichkeiten an: „Horizonte“, „Glühfaden“, „Epi intern“, „Ausschnitte“, „Ausdauer“, „Rhizom“. Die Leserschaft machte aus „Einfall“ dann „einfälle, Zeitschrift der Selbsthilfegruppen von und für Anfallskranke, der Titel, unter dem die Zeitschrift bis heute erscheint.
Wie es in Heft 15 aus dem dritten Quartal 1985 heißt, wollte man Anregungen und Hilfe geben, Vorurteile abbauen, sofern nötig Kritik an Institutionen, Ärzten und Medikamenten leisten, ein Forum für die Selbsthilfe schaffen, Schwierigkeiten aufzeigen, die Experten nicht sehen können, alternative Behandlungsansätze suchen und untersuchen, eine Möglichkeit zur Erprobung und Entwicklung der Fähigkeiten Betroffener bieten, vor allem für Leute, die sonst nicht zu Wort kommen. Hauptziel war und ist, mit Hilfe von Aufklärung emanzipatorische Prozesse anzustoßen und zu fördern.
Die einfälle entwickelten sich in der Folge rasch weiter. Bald bildete sich eine Konzeption heraus, die bis heute die Grundstruktur der Zeitschrift ausmacht: Jedes Heft hat ein Schwerpunktthema mit einem Fachartikel. Um diesen sind Beiträge von Betroffenen zum Thema gruppiert. Bald gab es auch feste Rubriken, die wiederum die Spannung zwischen Erfahrungsaustausch der Betroffenen und objektiver Information widerspiegeln: Information zu rechtlichen Fragen, Medikamenten, neuen Therapien, Leben mit Epilepsie, neue Büchern oder Gruppenberichten.
Bei einer Durchsicht der Themenschwerpunkte von einfälle bemerkt man, dass in den ersten 20 Ausgaben, d. h. in den ersten fünf Jahren, alle auch noch heute wichtigen Themen für Menschen mit Epilepsie angeschnitten wurden. Betrachtet man die einfälle der ersten Jahren etwas genauer, dann fällt auf, dass es bewusst auch darum ging, Tabus wie z.B. Alkohol bei Epilepsie oder Epilepsie und Sexualität anzusprechen – Themen, über die lange Zeit nur wenig gesprochen wurde und für die nun zum ersten Mal ein Forum entstanden war.
Bemerkenswert ist auch, dass sich für eine Reihe von Themen in frühen Heften in Deutschland offenbar keine Autorinnen oder Autoren fanden. Dies galt z. B. für „Epilepsie und Sexualität“, das dann ohne Zögern von Tim Betts aus Birmingham, oder „Alkohol und Epilepsie“, das von Jan Höppener aus Kempenhaege übernommen wurde. Von Anfang an wurden zahlreiche Kontakte zu ausländischen Selbsthilfe-Organisationen wie z. B. der niederländischen, belgischen oder italienischen Epilepsie-Vereinigung geknüpft. Aus der Zeitschrift der amerikanischen Epilepsie-Stiftung, National Spokesman bzw. Epilepsy USA, wurden mehrere Artikel übersetzt, woraus zahlreiche Ideen entstanden, wie die Interessen Betroffener auch in Deutschland nachdrücklicher vertreten werden können.
Auffällig ist auch das enorme Interesse an so genannten alternativen Therapien. Man wollte nicht „passiver Pillenschlucker“ sein, sondern aktiv etwas an der eigenen Situation und an der gleich Betroffener verbessern, wozu die so genannten alternativen Methoden der richtige Ansatz zu sein schienen. Dies führte in den ersten Jahren zu manchen Spannungen mit epileptologischen Fachleuten, die aber von beiden Seiten immer konstruktiv bearbeitet wurden, so dass man letztlich gegenseitig von einander lernte.
Von 1982 bis 1990 bestand der Redaktionskern aus Klaus Göcke, Manfred Schmidt, Barbara und Manfred Danilowski, Rupprecht Thorbecke, Lothar Kuller und Brigitte Lengert. Klaus Göcke kümmerte sich wesentlich um die technische Seite der Herstellung. Zuerst wurde die Zeitschrift ganz bieder getippt; dann wurden lange Kolumnen bzw. Fahnen gedruckt, die schließlich als Spalten von Hand geklebt werden mussten. Bald erfolgte der Übergang zum Bildschirmlayout mit Einsatz von Grafiken und Bildern, die die Inhalte der Beiträge ironisieren oder persiflieren und damit verdeutlichen, dass sich die Redaktion auch selbst ein bisschen auf den Arm nimmt. Brigitte Lengert, die Mutter eines anfallskranken Jungen ist, kam Ende der 80-er Jahre zur Redaktion. Ab dieser Zeit entstanden eine Reihe von Ausgaben, die die Probleme von Kindern und Eltern mit epilepsiekranken Kindern thematisierten, ein bis dahin eher vernachlässigter Themenbereich.
Von 1990 bis 2001 wurde die Redaktionsarbeit wesentlich von Klaus Göcke, Brigitte Lengert und vor allem Renate Schultner geleistet. Renate Schultner verstarb am 20. März 2001 kurz vor ihrem 46. Geburtstag im Rahmen eines Anfalls in ihrer Wohnung über den Räumen der Epilepsie-Selbsthilfe, ihres Arbeitsplatzes. Mit dieser Preisverleihung soll ganz besonders – nun leider posthum – auch Renate Schultner für ihre unermüdliche Arbeit in der Epilepsie-Selbsthilfe und ihren engagierter Einsatz gedankt werden. Seit dem Tod von Renate Schultner arbeiter Frau Ruth Retzlaff verstärkt an der Zeitschrift mit und hat inzwischen zusammen mit Herrn Klaus Göcke den verantwortlichen Part innerhalb der Redaktion übernommen.
Das Preisgeld soll der Zeitschrift der Epilepsie-Selbsthilfe zu Gute kommen. Dabei möchten wir uns bei allen Mitgliedern der Epilepsie-Selbsthilfe in Berlin bedanken, die sich aktiv an der Arbeit und dem Versand beteiligt haben und beteiligen.
Dr. Günther Krämer (Vorsitzender des Preisjury)
STIFTUNG MICHAEL
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